Grazer Struwwelpet(e)riade am Schauspielhaus

Wer kennt sie nicht aus Kindertagen, die Geschichte vom Zappel-Philipp? Oder die vom wilden Jäger, dem zündelnden Paulinchen oder dem Hanns-Guck-in-die-Luft? Der böse Friederich, der Suppen-Kaspar und der fliegende Robert. Nicht zu vergessen der arme Daumenlutscher.

All diese Figuren stammen aus der Feder eines Frankfurter Arztes und Psychologen: Heinrich Hoffmann hat mit seinem „Struwwelpeter“ 1845, zunächst für die „Gartenlaube“, später für Generationen von Kindern und Eltern, eines der erfolgreichsten Kinderbilderbücher aller Zeiten geschrieben und illustriert. Seine Geschichten sind moralisch, belehrend und pädagogisch umstritten. Viele moralisch erhobene Zeigefinger werden darin gezückt und Kinder für ihr Fehlverhalten drastisch gerügt. Das Schicksal kommt als Strafe in Form des Schneiders, der Daumen abschneidet, mit übergroßer Schere oder als Minz und Maunz, die mit erhobenen Tatzen „Der Vater hat’s verboten“ schelten und zusehen, wie das Paulinchen bis auf seine Schuhe verbrennt, daher.

Das Schauspielhaus Graz hat sich des Stoffes angenommen und den Struwwelpeter als Junk Opera professionell mit Julien Crouch und Phelim McDermott inszeniert. Unter der Regie von Markus Bothe erfährt er eine Modernisierung. Aufwendig ausgestattet, schrill und trotzdem unverfälscht wird der Struwwelpeter mit seinen langen Haaren und Nägeln als Hosenrolle (Sarah Sophia Mayer) auf der Bühne weniger zum bemitleidenswerten Verweigerer, als vielmehr zum Storyteller und Drahtzieher des Geschehens. Bitterböse Kommentare und Tierquälerei inbegriffen. Die immer aktuelle Ernährungsdebatte wird am Exempel des Suppen-Kaspars, des zweifelhaften ersten Anorektikers der literarischen Geschichte, statuiert, andere Erziehungsfragen an die Spitze getrieben und grausame Todesarten der infantilen Protagonisten vorgeführt.

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Befruchtungsszene: Greiner, Blumenau, Gräfner, Goffin (c) Lupi Spuma

Eine erfinderisch-erzeugte Klangkulisse, großartige schauspielerische Leistungen (Julia Gräfner überzeugt als Vater, Eizelle und sowieso in jeder Rolle, die sich sonst noch für sie oder die sie findet; Pascal Goffin und Benedikt Greiner beweisen akrobatisches Talent), Befruchtungsszenen und Moorhuhnjagd machen den Theaterabend kurzweilig und zu einem schön-schaurigen Erlebnis der skurrilen Sorte – dem selbst die Tatsache, dass am Ende alles tot ist oder die nüchterne Feststellung der Sinnlosigkeit all der Tode, keinen Abbruch tut. Der schwarzen Pädagogik Hoffmanns setzt er Mut zur Individualität entgegen.

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